Doch viele sehen es anders, in der Geschichtswissenschaft, in anderen ehemaligen Kolonien, und auch hier in Whitechapel. In der großen Stadtbibliothek, in der Mütter stapelweise Bilderbücher für ihre Kinder ausleihen, liegt ein Kondolenzbuch aus: 

"Bye Bye RIP", steht da in Kinderschrift.

"RIP Liz, you will be missed." 

"Thank you for being our Queen."

Aber auch, hier auf Deutsch übersetzt: "Ihr Tod ist traurig. Aber diese Dame hat das Vereinigte Königreich während der kriminellen rassistischen Kolonialzeit geführt – was sie allerdings wegen ihres Reichtums aber nicht interessierte."

Die Hochhäuser des Finanzdistrikts ragen hinter Whitechapel in den Himmel, die "Gewürzgurke", wie die Briten das Gebäude, entworfen von Stararchitekt Norman Foster, nennen. Dahinter: Die "Käsereibe", entworfen von Richard Rogers. © Heiko Prigge für ZEIT ONLINE

Die Mitarbeiterinnen bei Ukay Jewellery winken einen vom Gewusel des Marktes hinein, durch die zwei Sicherheitstüren, vorbei an den glitzernden Auslagen mit Nasenringen und Armreifen. Seit knapp drei Jahrzehnten ist der Laden schon dort, es gab ihn lange bevor man im Osten die Gewürzgurke sah oder die Käsereibe, zwei Hochhäuser im Finanzdistrikt, welche die Briten nach ihren jeweiligen Assoziationen benannt haben.

Der Inhaber, Ahfaz Miah, 60 Jahre alt, eine blütenweiße Gebetsmütze auf dem Kopf und einen Tee vor sich, ist 1970 aus Sylhet nach England gekommen. Vielleicht kann man mit ihm über den Koh-i-Noor-Diamanten sprechen, den viele Inderinnen und Inder nach dem Tod der Queen zurückfordern. Der Begriff trendete kurzzeitig auf Twitter. Der Koh-i-Noor, 105.6 Karat, geschätzt mehr als 20 Gramm schwer, vor Jahrtausenden in Indien geschürft, sitzt in der Krone der "Queen Mom", der Mutter von König Elizabeth II. Bei der Krönung ihres Mannes soll Queen Consort Camilla diese Krone tragen. Doch er ist auch einer der umstrittensten Kronjuwelen. Iran, Afghanistan, Indien und Pakistan haben alle jeweils bereits den Stein den ihren genannt. Es gibt Gutachten, Gerichtsbeschlüsse, politische Petitionen und diplomatische Bemühungen, alle ranken sich um die Frage, wem der Stein denn nun gehört. Indische Politiker haben die Briten schon mehrmals aufgefordert, den Diamanten zurückzugeben; das zweite Mal 1953, im Jahr von Königin Elizabeths II Krönung.

Ahfaz Miah, 60 Jahre alt, hat sich auf 22-Karat-Gold-Schmuck spezialisiert. Die Queen hat er vor Jahrzehnten in Greenwich gesehen. "Eine nette Dame. Möge Sie in Frieden ruhen", sagt er. © Heiko Prigge für ZEIT ONLINE

Ahfaz Miah holt eine eingeschweißte Tabelle hervor mit Diamantklassifikationen, von D bis M – alles Lichtjahre und meilenweit von dem Koh-i-Noor entfernt, sagt Miah, denn der sei der reinste Diamant der Welt. Trotzdem ist dem Schmuckhändler die Diskussion um den Diamanten ein bisschen egal. Er winkt ab; das würde in seinem Freundeskreis nicht debattiert, unter den Schmuckhändlern auch nicht. Er selbst verkaufe wenig Diamanten, "Ich spezialisiere mich auf 22-Karat-Gold", sagt er, seit 25 Jahren. Hinter ihm hängen schwere Hochzeitscolliers aus Gold für umgerechnet 6.000 bis 9.000 Euro, alles Handarbeit aus Mumbai, Delhi und Kalkutta. Daneben dünnere Ketten für den "kleineren Geldbeutel". Er selbst hat die Queen in Greenwich gesehen, als er noch jünger war. "Eine sehr nette Dame. Möge sie in Frieden ruhen."

Der Besitzer des Restaurants hat für sein Poster mit Bedacht ein Foto der Queen ausgewählt: Ihr grasgrünes Kostüm korrespondiere gut mit seiner grünen Einrichtung, sagt er. © Heiko Prigge für ZEIT ONLINE

Whitechapel ist in Großbritannien berühmt und berüchtigt: Der zugehörige Bezirk Tower Hamlets schlägt in den Statistiken Londons noch immer nach unten und nach oben aus: die höchste Armutsrate in der Stadt, die höchste Rate von Kindern, die in Armut aufwachsen. Hier befinden sich aber auch das Royal London, eines der renommiertesten Krankenhäuser und die Whitechapel Gallery, neben der Tate Modern eine der angesehensten Galerien Londons. Und hier wurde Kriminalgeschichte geschrieben: Ende des 19. Jahrhunderts ermordete hier der Serientäter Jack the Ripper elf Frauen. Die Kray-Zwillinge, so etwas wie die Al Capones der britischen Hauptstadt, verewigt in Serien und Büchern, koordinierten in den Sechzigern ihre Raubüberfälle. Vor fünf Jahren kursierten Verschwörungsmythen, dass in dem Bezirk Tower Hamlets in bestimmten "No-Go"-Zonen die Scharia gelte. Dies stellte sich als Fake News heraus. Doch es passte in das Bild und die Zahlen, die manche von dem Bezirk hatten.

Für die Menschen in Whitechapel ist die Queen, wie für alle anderen im Land, auch eine Konstante gewesen, ihre Präsenz ein konstantes Grundrauschen, ihr Konterfei überall im Alltag sichtbar. Und doch: Das dominierende Thema ist der Tod der Königin hier nicht, wie wahrscheinlich in den meisten Ecken Englands. Zu groß, vermutet Supermarktmitarbeiter Hasim Abdul, ist zurzeit bei vielen die Sorge vor dem Winter, vor den gestiegenen Nebenkostenabrechnungen. Allein die Lebensmittelpreise sollen bis zu 13 Prozent ansteigen. Der Preis von Speiseöl, sagt Abdul, früher noch fünf Pfund, liege jetzt schon bei zwölf Pfund. Er finanziere sein Leben gerade auf Kreditkarte. Hasib Abdul war noch nicht am Buckingham-Palast, keine Zeit. Aber er würde gerne zur Aufbahrung der Queen gehen, einmal um den Sarg laufen. Es erscheint ihm angemessen, eine letzte Ehre. Vielleicht leben die Menschen hier genau das, was die Harvard-Geschichtsprofessorin Maya Jasanoff kürzlich in der New York Times forderte: Betrauert die Queen. Aber nicht ihr Empire.


Der Whitechapel Markt ist die Hauptader der Straße. Außer sonntags hat der Markt jeden Tag von morgens bis abends geöffnet. © Heiko Prigge für ZEIT ONLINE