Ist die Aufklärung vom Himmel gefallen?

Will der säkulare Staat den Islam integrieren, muss er sich auf seine christliche Herkunft besinnen.

Martin Rhonheimer
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Christliche und islamische Symbole der Macht – unter welchen Voraussetzungen sind sie kompatibel? (Bild:Eric Gaillard / Reuters)

Christliche und islamische Symbole der Macht – unter welchen Voraussetzungen sind sie kompatibel? (Bild:Eric Gaillard / Reuters)

Als vor einiger Zeit CVP-Präsident Gerhard Pfister im Interview mit dieser Zeitung den säkularen Rechtsstaat als «christliches Verdienst» bezeichnete, konterte SP-Chef Christian Levrat: «Ich finde es erschreckend, dass es in der Schweiz politische Kräfte gibt, die sich auf eine Religion berufen müssen, um die Werte unserer Gesellschaft zu rechtfertigen.» Denn diese Werte, so Levrat, stammten aus der Aufklärung. Die Aufklärung aber, ist sie plötzlich vom Himmel gefallen? In voraussetzungslosem Raum entstanden?

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Ihr Kennzeichen war die Forderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen, Autoritäten, auch die der christlichen Offenbarung, zu hinterfragen. Die Aufklärung wurzelte in dem Bewusstsein, dass es Rechtsgrundsätze gibt, die unabhängig vom Willen der Mächtigen und der religiösen Autoritäten gelten und der menschlichen Vernunft zugänglich sind. Ihre institutionelle Voraussetzung waren eine Diskussionskultur als Trainingsfeld dieser Vernunft sowie der akademische Freiraum der Universität, ihr liberaler Impuls die Forderung nach einer definitiven Scheidung von Politik und Religion.

Dies alles ist – unleugbar – auf dem Boden des Christentums gewachsen, der ersten Religion, die aus ihren heiligen Texten keine rechtliche und politische Ordnung ableitete. Die vom Christentum geprägte Zivilisation basiert auf dem römischen Recht, das die Kirche im Mittelalter zu ihrem eigenen, dem Kirchenrecht ausbaute.

Kirchenjuristen erneuerten und transformierten die altrömische Tradition des Naturrechts hin zu einem «ius naturale» als Ergebnis der Fähigkeit der natürlichen Vernunft, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Darauf basierend reinigten sie überkommenes germanisches Gewohnheitsrecht von diskriminierenden und antirationalen Elementen, bereiteten so den Boden für das moderne Menschenrechtsdenken. Und die Kirche etablierte Universitäten als akademische Lehr- und Forschungsräume und förderte damit trotz gelegentlichen Widerständen eine Naturphilosophie, aus der die moderne Naturwissenschaft entstand.

Diese entstand nicht im Konflikt mit der Kirche. Der «Fall Galilei» wird deshalb immer wieder genannt, weil er der einzige war. Antikopernikanisch war nicht die katholische Kirche, die von Galilei lediglich wissenschaftliche Beweise verlangte, sondern Luther, der Kopernikus einen Narren nannte, weil sein heliozentrisches System der wörtlichen Auslegung der Schrift widersprach. Es war das Prinzip «sola scriptura», das mit der modernen Wissenschaft in Konflikt stand. Dieser wurde im Protestantismus schliesslich durch Bibelkritik gelöst.

Religionsinterne Aufklärung

In der Frühzeit der Dynastie der Abassiden (750–1258) kannte auch der Islam eine theologische Richtung (der Mu'taziliten), die Vernunft und Glaube in Einklang bringen wollte. Doch wurde sie verdrängt von einer Orthodoxie, die einzig Koran und Scharia-Recht als Quellen der Erkenntnis der Weltordnung zuliessen. Al-Ghazali (1058–1111) schliesslich erklärte, die Suche nach Gesetzen und Ordnung der Natur, ja jegliche rationale Reflexion des Glaubens sei Leugnung von Gottes absoluter Freiheit und Allmacht und somit Blasphemie. Die «griechischen Wissenschaften», speziell die Physik, wurden deshalb aus dem Curriculum der islamischen Schulen verbannt. Dies kam einem «intellektuellen Selbstmord» (Robert Reilly) gleich – mit Folgen in der muslimischen Kultur bis heute.

Christliche Theologie im vergleichsweise autonomen Raum der von der Kirche gegründeten und geförderten Universitäten war – so der Christentumskritiker Herbert Schnädelbach – doch immer auch «religionsinterne Aufklärung im Sinne einer Reflexion und rationalen Durcharbeitung des Geglaubten». Gross war dabei das Interesse an physikalischen Fragen, weshalb die Naturphilosophie zum universitären Curriculum gehörte. Noch Newton titelte sein Hauptwerk: «Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie». Die islamische Mathematik, trotz bedeutenden Leistungen auch in der Astronomie, war hingegen kein Weg zur modernen Naturwissenschaft.

Heilsverheissungen

Ohne Christentum und kirchliche Kulturschöpfung hätte es weder diese Entstehungsbedingungen der modernen Wissenschaft gegeben, noch gäbe es die europäische Rechtstradition. Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer sieht die mittelalterliche Kirche als «Lehrmeisterin des weltlichen Rechts». Unter Historikern unbestritten, war es die sogenannt päpstliche Revolution des Hochmittelalters, die für die moderne Rechts- und Staatsentwicklung die Grundlagen legte. Sie entsakralisierte König- und Kaisertum und erneuerte damit den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt.

Das 11. Jahrhundert war die Wende zur Neuzeit. Auch hatte das Christentum, so der Oxforder Historiker Larry Siedentop, «das Individuum erfunden»: Auf der zur Antike konträren Idee, alle Menschen seien gleich, nämlich vor Gott, und als Individuen selbst verantwortlich für ihr Heil, basiert die spätere Kultur der Freiheitsrechte des Individuums.

Die grossen theologischen und zivilisatorischen Leistungen der antiken und mittelalterlichen Kirche sind auch Erbe und Nährboden der aus der Reformation hervorgegangenen Christenheit und damit gemeinsame Wurzel der Moderne. Der säkulare, freiheitliche Staat ist auf dem Humus einer Zivilisation christlicher Prägung gewachsen, ja erst möglich geworden. Die Aufklärung war eine reife Frucht dieser Entwicklung. Als solche war sie begründeter Protest gegen die intolerante und repressive Allianz von Staat und Kirche, wie sie infolge der Glaubensspaltung – als Friedensformel zur Beendung der verheerenden Glaubenskriege, also aus politischen Gründen – im konfessionellen Staat der Neuzeit entstanden war.

Die Freiheitlichkeit der Moderne ist immer dann in Gefahr, wenn die Politik an Stelle der Kirche Heilsverheissungen anbieten will

Der Aufklärung war aber auch der fragwürdige Impetus eigen, Offenbarungsreligion und Kirchenglauben ausmerzen und damit ihre eigenen Voraussetzungen tilgen zu wollen. Das erst brachte ihr die Feindschaft der Kirche ein. Denn der freiheitliche säkulare Staat ist aus dem spannungsvollen Gegensatz von weltlicher Macht und Kirche als Institution des ewigen Heils entstanden. Die Freiheitlichkeit der Moderne war und ist immer dann in Gefahr, wenn sie sich an die Stelle der Kirche setzen, wenn ihrerseits die Politik Heilsverheissungen anbieten will.

Die Staatsvergottung hat das 20. Jahrhundert in Form zweier Totalitarismen schmerzlich erfahren. Eric Voegelin, und danach Emilio Gentile und Hans Maier, nannten totalitäre politische Ideologien deshalb «politische Religionen», Hermann Lübbe bezeichnete sie – phänomenologisch korrekter – als «Anti-Religionen».

Islam als politische Religion

Der Islam dagegen ist eine politische Religion. Seine Schöpfungsordnung ist zugleich die Ordnung des Heils. Eine Scheidung von religiösem und weltlichem Recht, von religiöser und politisch-sozialer Ordnung gibt es nicht im Islam. Er ist nicht, was unsere unter christlichen Voraussetzungen entstandene säkulare Rechtsordnung unter Religion versteht: eine von der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung separate Ordnung des Glaubens an eine Heilswahrheit und eine entsprechende kultische Praxis.

Da für das Christentum Politik, Staat und Recht ihrer Natur gemäss nicht im Dienst ewigen Heils stehen, konnte sich auf seinem Boden – nicht ohne kirchliche Widerstände – ein rechtlich-politischer Begriff von Religionsfreiheit entwickeln, der letztlich auf dem genuin christlichen Dualismus von politisch-rechtlicher und religiöser Ordnung beruht.

Dieser Dualismus, dem im Zeitenlauf zwar oft zuwidergehandelt wurde, steht im Widerspruch zum Wesen des Islam als integrale religiöse, politische, rechtliche und soziale Ordnung. Daher rührt die Mühe im Islam, das Ethos anzuerkennen, aufgrund dessen wir in einer vom Christentum geprägten Kultur zu leben gelernt haben: dass Menschen verschiedenen Glaubens und unterschiedlicher Moralvorstellungen auf der Grundlage eines Gefüges von religionsunabhängigen, säkularen rechtlichen Regeln und auf der Basis bürgerlicher Gleichheit zusammenleben. Dieses Ethos verlangt keine bestimmte Gesinnung, wohl aber die Befolgung von Regeln und überlässt, vereinfacht gesagt, alles andere dem Freiraum der Privatsphäre.

Die grösste Herausforderung, mit der die freiheitliche westliche Gesellschaft sich künftig auseinandersetzen muss, ist nicht die Gewalttätigkeit der politisch extremsten Spielarten des Islam. Sie besteht vielmehr darin, dass die Anerkennung des säkularen Ethos bürgerlichen Zusammenlebens dem politisch-religiöses Selbstverständnis aller Varianten des Islam widerspricht. Um dieses Problem zu lösen, müsste der Islam von einer politischen zu einer rein religiösen Religion werden – was nicht völlig unmöglich ist, wie die Geschichte etwa des Balkans zeigt.

Der Islam wird zu Europa gehören. Ob und wie sein Selbstverständnis sich modifizieren wird, hängt davon ab, wie sehr die Menschen muslimischen Glaubens sich in unsere Gesellschaft integrieren können und wollen. Integration und die damit verbundene, zumindest partielle Assimilation der Lebensweise bewirkt kulturelle Veränderung. Diese müsste die Abkehr vom politischen Verständnis der eigenen Religion einschliessen und damit eine unzweifelhafte Anerkennung des Primats der freiheitlich säkularen Rechtsordnung über die Scharia.

Falsch verstandene Toleranz

Der Westen wird der Herausforderung des vermehrt in seinen Gesellschaften präsenten Islam nur gewachsen sein, wenn er nicht die christlichen Wurzeln seiner politischen und rechtlichen Kultur verleugnet. Das ist nun keineswegs ein Ruf nach einer neuen christlichen Leitkultur. Vielmehr ist es die vom Christentum und seiner Scheidung von Politik und Religion ermöglichte säkulare «Leitkultur» des freiheitlichen Rechtsstaates, der sich gegenüber religiösen Wahrheitsfragen sowie der religiösen Zugehörigkeit seiner Bürger indifferent verhält.

Eine solche Leitkultur gilt es von Muslimen wie von allen Bürgern einzufordern, wobei allen, Muslim oder nicht, die gleichen Rechte und gleiche Behandlung zustehen. Das allerdings setzt voraus, dass der Westen an seinem christlich fundierten Verständnis von Religion festhält und es unverrückbar allen Tendenzen entgegensetzt, die – im Namen falsch verstandener Religionsfreiheit und Toleranz – eine mit unserem Rechtsverständnis inkompatible Islamisierung der Gesellschaft zuzulassen bereit sind.

Eine sich auf die religionsfeindlichen Aspekte der Aufklärung berufende Ächtung religiöser Heilsverheissungen als freiheitsfeindlich hingegen hätte totalitäre Züge. Sie würde indirekt den Staat überhöhen und eine säkular-freiheitliche politische Kultur untergraben. Diese lebt ja gerade vom Gegenüber heilsverheissender Institutionen. Sie bewahren den Staat – im Interesse der Freiheit – davor, selbst soziale oder politische Heilsversprechen anbieten zu wollen.

Martin Rhonheimer ist katholischer Priester, Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce (Rom) und Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Zum vorliegenden Thema veröffentlichte er das Buch «Christentum und säkularer Staat», Freiburg i. Br. 2012.